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Spontanbrüche bei Aussengläsern von Fassaden-Isoliereinheiten vermeiden

Die Vorteile von ESG in der Fassade liegen auf der Hand: Die hohe Temperaturwechselbeständigkeit und die wesentlich höhere Biegezugfestigkeit sind Eigenschaften, die für den Einsatz von ESG auf der Aussenseite von Isolierglaseinheiten in der Fassade sprechen. Im Bruchfalle besteht jedoch das Risiko, dass die teilweise zusammenhaftenden Glaskrümel an der Fassade entlang herunterfallen und zu Personen- und Sachschäden führen können.

Durch das Inkrafttreten des Merkblatts SIA 2057 «Glasbau» am 1. August 2021 wurde die Anwendung von ESG in der Fassade klar geregelt. Aussengläser, die ihre Oberkante höher als 4 m ab begehbarer Fläche haben, müssen einem Heat-Soak-Test (ESG-HST) unterzogen werden. ESG-HST reduzieren die Wahrscheinlichkeit eines Spontanbruchs wesentlich, ein kompletter Ausschluss von Spontanbrüchen ist aber nicht möglich. Deshalb soll die jeweilige Anwendung einer Risikobeurteilung unterzogen werden. Dazu haben betroffene Branchenverbände und Spezialisten das frei verfügbare Dokument «Vertikalverglasungen mit Einscheiben-Sicherheitsglas - Risikobeurteilung» erstellt. Es erlaubt, das Risiko von ESG-HST unter Berücksichtigung der Nutzung, der Personenbelegung, der Glasgrössen und der Einbauhöhen abzuschätzen. Die SIGAB hat ein Online-Berechnungstool dafür auf der Webseite aufgeschaltet: ESG-HST Risikobeurteilung. Die Anwendung von Floatglas und Teilvorgespanntem Glas (TVG) muss hingegen keiner Risikobeurteilung unterzogen werden, sofern eine 4-seitig lineare Lagerung vorliegt. Auf diese Gläser soll im Folgenden eingegangen werden.

Bei Floatglas bestehen, dadurch bedingt, dass keine Eigenspannungen im Glas vorliegen, keine Risiken von sogenannten Spontanbrüchen. Ausserdem führt ein Bruch aufgrund der 4-seitigen Lagerung in aller Regel nicht zu herabfallenden Scherben. In Bezug auf thermische Glasbruchrisiken ist Floatglas mit einer Temperaturwechselbeständigkeit von 40 K relativ anfällig, im Speziellen wenn stark absorbierende Beschichtungen zum Einsatz kommen oder Teilbeschattungen erwartet werden müssen. Ähnlich verhält es sich bei Verbund-Sicherheitsglas aus Floatglas. Jedoch ist hier der massgebende Unterschied, dass herabfallende Scherben ausgeschlossen sind, da die VSG-Zwischenschichten gebrochene Glasteile zusammenhalten und sich dadurch erst gar keine Bruchstücke loslösen können.

Als vermeintlich idealer Kompromiss kommt hier nun das TVG ins Spiel - ein grob brechendes Glas, das einige Vorteile des ESG sowie auch einige Vorteile des Floatglases mit sich bringt. Die erhöhte Temperaturwechsel-beständigkeit und Biegezugfestigkeit gegenüber Floatglas einerseits und die bessere optische Qualität (durch ausgewogenere Planität und fehlender Anisotropie) gegenüber ESG andererseits sind wesentliche Merkmale. TVG wird vorwiegend im VSG-Verbund eingesetzt, wo die grob brechenden Eigenschaften in Kombination mit den VSG-Folien zu einer Resttragfähigkeit im Bruchfall führt. TVG als monolithisches Glas als äussere Scheibe im Isolierglas wird praktisch nie eingesetzt. Erfahrungen von TVG als Einfachglas auf der äussersten Ebene des Isolierglases sind deshalb zum aktuellen Zeitpunkt relativ wenige vorhanden. Auch international wird dieses Produkt in der beschriebenen Form sehr unterschiedlich, teilweise auch mit grosser Zurückhaltung behandelt. Zur Beurteilung der Sicherheit dieses Glases in der Fassade stellen sich folgende Fragen:

  • Kann TVG auch Spontanbrüche durch die produktionsbedingten Nickelsulfid-Einschlüsse wie beim ESG erleiden? Die Antwort ist ja. Währenddem bei ESG-HST von einem Spontanbruch alle 400 Tonnen ausgegangen wird, ist die rechnerische Wahrscheinlichkeit bei TVG bei einem Spontanbruch alle 1100 Tonnen (+/- 200 t). Aus Sicht des vom SIGAB beauftragten Gutachtens[1] kann daher das Spontanbruchrisiko nicht vernachlässigt werden.
  • Wie verhält es sich mit dem Bruchbild von TVG? Entspannt sich das Glas immer gegen die Kante hin und können sogenannte Inselbrüche - welche Scherben frei geben könnten - entstehen? Die Antwort ist ja. Die SN EN 17635:2022 gibt für TVG eine Untersuchung der Bruchstruktur vor. Dabei werden auf das Referenzmass bezogen, Obergrenzen gesetzt für kleine Bruchstücke und für Insel-Bruchstücke. Es wird davon ausgegangen, dass ein TVG-Bruch zu einem grossen Teil aus grossflächigen Bruchstücken besteht, die bis an den Randverbund reichen (also somit noch gewissermassen im Rahmen gehalten werden). Die vereinzelten Insel-Bruchstücke sind hier von besonderem Interesse, da diese ohne weitere Fixierung aus der Verglasung fallen und aufgrund der Masse und Geometrie zu Schäden führen könnten. Grössere Inseln können beim Bruch nicht ausgeschlossen werden.

Die technische Fachstelle SIGAB hat sich zum Ziel gesetzt, dieses Thema weiter zu beobachten. Einige Fragen können zum aktuellen Zeitpunkt nicht mit abschliessender Sicherheit beantwortet werden. Mit der Möglichkeit, dass solche Gläser in Zukunft in der Fassade auf der äussersten Ebene eingeplant werden, werden sich auch Erfahrungen mehren. Das Risiko von TVG scheint mit geringerer Eintretenswahrscheinlichkeit auf Splitter- resp. Bruchstückabgang einherzugehen. Die möglichen Auswirkungen sollten jedoch nicht ausser Acht gelassen werden. Unter diesen Aspekten rät die SIGAB den Einsatz von TVG als Einfachglas auf der äussersten Ebene des Isolierglases mit Vorsicht zu behandeln, auch wenn nach den aktuellen normativen Grundlagen der Einsatz quasi uneingeschränkt möglich ist. Die sicherste Lösung von Fassadenverglasungen (oberhalb der für ESG-HST zugelassenen Grenze) ist ein Verbund-Sicherheitsglas (VSG). Ob dieses aus Floatglas, aus ESG oder aus TVG besteht, ergibt sich neben den ökonomischen Gesichtspunkten nicht zuletzt auch durch die Frage der thermischen Belastungen an der Fassade.

ESG-HST Risikobeurteilung


[1] Dr. Andreas Kasper, Spontanbruchwahrscheinlichkeit von TVG durch NiS-Einschlüsse, 2022

Bild: SIGAB / SFV

Aussengläser von Isolierglaseinheiten in Fassaden SIGAB