Seit dem 1. August 2021 ist das Merkblatt SIA 2057 «Glasbau» in Kraft und hat in der Schweiz andere Bemessungsverfahren für Glasdicken abgelöst. Es besteht keine Notwendigkeit mehr, andere Normen (z. B. DIN 18008) für die Bemessung heranzuzuziehen. Das Merkblatt wurde im Hinblick auf den zukünftigen Eurocode 10 für den konstruktiven Glasbau konzipiert.
Es ist davon auszugehen, dass mit dem zukünftigen Eurocode 10 ähnliche Bemessungsverfahren angewendet werden können. Die endgültigen Fassungen dieser Normenreihe sind noch in Arbeit. Das Merkblatt SIA 2057 wird auch nach dem Inkrafttreten des Eurocodes 10 mit einer Übergangsfrist weitere Jahre gültig bleiben. Aus heutiger Sicht kann von einer Gültigkeit bis mindestens im Jahr 2031 ausgegangen werden. Aufgrund der gesammelten Erfahrungen und der heute entwickelten Hilfsmittel, ist es an der Zeit, eine Bilanz zu ziehen.
Heute müssen Bauverglasungen nach dem Merkblatt SIA 2057 «Glasbau» nachgewiesen werden. Dabei sind die Tragfähigkeit, die Gebrauchstauglichkeit (Durchbiegung / Schwingungen), das sichere Bruchverhalten und das Verhalten im Bruchfall nachzuweisen. Die Nachweise spielen in der Praxis insbesondere für Bauteile, die für Personen zugänglich sind, eine sicherheitstechnisch wichtige Rolle.
Systematik des Merkblattes SIA 2057 «Glasbau»
Das normativ gültige Merkblatt bezieht sich auf Normen wie SIA 260 «Grundlagen der Projektierung von Tragwerken» und SIA 261 «Einwirkungen auf Tragwerke» und behandelt neben den allgemeinen Aspekten der Tragwerksanalyse und der Bemessung in den einzelnen Kapiteln die verschiedenen Anwendungen und Lagerungsarten. Diese Kapitel sind je nach geplanter Ausführung zu berücksichtigen. So gelten zum Beispiel im Falle von vertikalen Aussenverglasungen neben den allgemeinen Teilen sowohl das Kapitel über Vertikalverglasungen (Ziffer 5.2), das Kapitel über Isolierverglasungen (Ziffer 5.4) als auch gegebenenfalls das Kapitel über absturzsichernde Verglasungen (Ziffer 5.5), wenn gemäss Norm SIA 358 «Geländer und Brüstungen» eine Abschrankungsfunktion mit der Verglasung zu erfüllen ist.
Im Folgenden soll der Fokus auf absturzsichernde Verglasungen gelegt werden. Die Bestimmungen gliedern die Anwendungen im Kapitel 5.5 «Absturzsichernde Verglasung» in 3 Gruppen, mit folgenden Untergruppen:
Gruppe 1
• Raumhohe Verglasungen mit 2- bis 4-seitiger linearer Lagerung oder mit Punkthaltern
• Ganzglasgeländer 1-seitig unten linear gelagert, mit oder ohne Kantenschutz
Gruppe 2
• Ganzglasgeländer 1-seitig unten linear gelagert, mit durchgehendem, statisch tragendem Handlauf, in verschiedenen Ausführungsvarianten
Gruppe 3
• Absturzsichernde Glasfüllungen in Geländern, in verschiedenen Lagerungsarten
• Absturzsichernde Verglasungen unterhalb eines in erforderlicher Höhe angeordneten, lastabtragenden Querriegels
• Absturzsichernde, raumhohe Verglasungen, in einem Rahmen linear gelagert, mit vorgesetztem, statisch tragendem Handlauf
Die SIGAB-Richtline für Glasgeländer
Die SIGAB hat mit der Richtlinie 004 «Geländer aus Glas - Dimensionierung von Glasdicken» (SR-004, 2024) ein Werk herausgegeben, aus dem die Glasdicken und Glaskombinationen für einen Grossteil der Glasgeländer, sowohl für Holmlasten von 0,8 kN/lfm für Wohn- und Büroflächen als auch für Holmlasten von 1,6 kN/lfm bei Versammlungsflächen (ohne Menschengedränge), abgelesen werden können. Die Windlasten wurden entsprechend der Systematik dieser Richtlinie in Abhängigkeit von Grundstaudruck und Gebäudehöhe in Gruppen gegliedert und decken einen Bereich von 0.4 kN/m2 (Innenanwendung) bis 2.2 kN/m2 (Grundstaudruck von 1.3 kN/m2 auf dem Dach eines 5-geschossigen Gebäudes) ab. Die Planung nach den Rahmenbedingungen der SR-004 ermöglicht es, den entsprechenden statischen Nachweis für die Ausführung zu erbringen. Es wurden Verbund-Sicherheitsgläser (VSG) aus 2 x Floatglas und aus 2 x teilvorgespanntem Glas (TVG), sowohl mit Polyvinylbutyral (PVB) als auch mit schubsteifen Zwischenlagen (Ionomer) dargestellt. Folgende Lagerungsarten wurden darin berücksichtigt:
• 4-seitig linear gelagert, raumhoch und als Geländerfüllung
• 3-seitig linear gelagert
• 2-seitig horizontal gelagert, mit und ohne lastabtragendem Holm
• 2-seitig seitlich linear gelagert, mit und ohne lastabtragendem Holm
• 1-seitig linear gelagert, “Ganzglasgeländer”
• 4-fach punktuell gelagert, mit Klemmen und mit Punkthaltern
Die neuen Grundlagen führen zu Veränderungen in der Praxis
Bei der Erarbeitung der Richtlinie hat sich gezeigt, dass im Vergleich zur früheren Praxis teilweise grössere Unterschiede bei den Glasdicken auftreten. Die Bemessung erfolgte bisher z. B. anhand der Tabellen in der SIGAB-Dokumentation “Sicherheit mit Glas - Geländer aus Glas” (2007). Insbesondere bei den Ganzglasgeländern haben die neuen Grundlagen Veränderungen zur Folge. Dies liegt auch daran, dass gemäss Merkblatt SIA 2057, projektspezifische Lastfallkombinationen aus Holm- und Windlasten zu berücksichtigen sind. Zudem muss der Nachweis der Gebrauchstauglichkeit (Durchbiegung) eines Ganzglasgeländers nicht nur für das Glas, sondern für das Gesamtsystem geführt werden. Diese erschwerenden, wenn auch nachvollziehbaren Vorgaben führen dazu, dass VSG heute tendenziell dicker ausgeführt werden muss als früher. Natürlich gelten diese Aussagen nicht pauschal; zu sehr hängen die Ergebnisse von der Art der Lagerung, der Profilstabilität, den Lastannahmen sowie den vorgesehenen Einzelscheiben und Folientypen ab. Für Anwendungen, wie z. B. bei Ganzglasgeländer, können daher auch die Systemlieferanten Auskunft geben.
Der Beitrag soll dafür sensibilisieren, dass sowohl bei der Planung, als auch bei der Ausführung und Kontrolle von Ganzglasgeländern auf die Einhaltung der normativen Vorgaben geachtet werden muss. Nicht alle Angebote auf dem Markt erfüllen die Vorgaben. Deren Einhaltung ist für die Sicherheit und Dauerhaftigkeit der Bauwerke entscheidend. Planende und Ausführende müssen sich deshalb mit den spezifischen Anforderungen auseinandersetzen, die sich aus dem Merkblatt SIA 2057 und den einschlägigen Normen ergeben. Dies betrifft nicht nur die richtige Dimensionierung der Glasdicken, sondern auch das Zusammenwirken der einzelnen Komponenten.
Darüber hinaus sollten alle Beteiligten, von Planung bis Bauherrschaft, über die neuesten Entwicklungen und Bestimmungen informiert sein. Schulungen können hier eine wertvolle Unterstützung bieten, um das Wissen auf dem aktuellen Stand zu halten und die Umsetzung in der Praxis zu erleichtern. Die SIGAB bietet, neben Schulungen zu allen anderen Richtlinien, auch Schulungen zur Anwendung der SIGAB-Richtlinie 004 «Geländer aus Glas - Dimensionierung von Glasdicken» (2024) an. Einerseits in Form von eintägigen Seminaren im Rahmen der Schulung zu allen SIGAB-Richtlinien, andererseits bei Bedarf auch individuell, z. B. als Webinar oder im Rahmen eines persönlichen Beratungsgesprächs.
Die SR-004 kann über den Webshop auf sigab.ch bestellt werden; sowohl als gedruckter oder digitaler Artikel für den Webviewer und als Kombiartikel mit zusätzlichem Rabatt.
Bilder: SIGAB
Foto: Raumhohe, absturzsichernde Verglasung mit punktuell gehaltenem Handlauf
Illustration 1: 7.1 Überblick zu den Varianten der berechneten Lagerungsarten
Illustration 2: 7.2 Illustrationen der berechneten Lagerungsarten